Der Zauberberg
Im Jahre 1912 verbrachte Thomas Manns Frau mehrere Monate in einem Davoser Lungensanatorium; die Eindrücke, die der Autor bei seinen Besuchen empfing, bewogen ihn zu einer »Art humoristischem Gegenstück« zu seiner Erzählung "Der Tod in Venedig" (1912).

Der Hamburger Patriziersohn Hans Castorp besucht nach bestandenem Ingenieur-Examen seinen lungenkranken Vetter Joachim Ziemßen in einem Sanatorium in Davos. Zunächst befremdet über die »hier oben« herrschende Lebensart, ordnet er sich zögernd in den Kurbetrieb ein, der, selbst auf Profit ausgerichtet, die Patienten aus ihren gewohnten bürgerlichen Verhaltensweisen reißt, sie in einen Zustand der Zeitlosigkeit und Pflichtvergessenheit versetzt: »Man ändert hier seine Begriffe«, prophezeit Joachim Ziemßen seinem Besucher.

Der zunächst auf drei Wochen vorgesehene Besuch, wird zu einem siebenjährigen Aufenthalt.
Eine leichte Erkältung führt schließlich zu einer Verlängerung seines Besuches, mit dessen Verlauf ein zunehmendes Desinteresse an der Welt des »Flachlandes« einhergeht. Der Italiener Lodovico Settembrini, Aufklärungsoptimist und »Zivilisationsliterat«, Republikaner und Humanist, der im Abschnitt "Satana" seinen ersten Auftritt hat (»Bosheit, mein Herr, ist der Geist der Kritik, und Kritik bedeutet den Ursprung des Fortschritts und der Aufklärung«) drängt ihn zur Abreise. Hans Castorp aber unterliegt der Faszination der Russin Clawdia Chauchat; sie vor allem hält ihn in dem Sanatorium zurück, bis es endlich im Kapitel "Walpurgisnacht" zur Liebesbegegnung mit ihr kommt (vom Autor nur indirekt angedeutet).
Sieben Monate sind bis dahin verstrichen, und der sich anschließende Teil des Romans erzählt von der restlichen Zeit der insgesamt sieben Jahre, die Hans Castorp auf dem »Zauberberg« verbringt. Clawdia Chauchat reist ab, Settembrini zieht in das Dorf hinab. Auch Hans Castorps Vetter verläßt entgegen den ärztlichen Ratschlägen das Sanatorium und kehrt später zum Sterben wieder zurück. Zwei Personen treten nun vor allem auf: der Jesuit und Kommunist Leo Naphta, der sich mit Settembrini erbitterte Diskussionen liefert, sowie Mynheer Pieter Peeperkorn, ein holländischer Kaffeepflanzer voller Vitalität, an dessen Seite Clawdia Chauchat wieder im Sanatorium erscheint. Aufgrund seiner »Ohnmacht, das Weib zur Begierde zu wecken«, wird Peeperkorn sich schließlich in den Tod flüchten. Nach Peeperkorns Tod und Clawdias endgültiger Abreise, herrscht, wie ein Abschnitt überschrieben ist, der "große Stumpfsinn", gelindert nur durch die »Fülle des Wohllauts«, die ein Grammophon hervorbringt, auf dem Hans Castorp "Aida und "Carmen", vor allem aber Schuberts "Am Brunnen vor dem Tore" hört. Ansonsten jedoch entwickelt sich eine »große Gereiztheit«, die schließlich zum Pistolenduell zwischen Naphta und Settembrini führt, bei dem beide sich dem Zwang, aufeinander schießen zu müssen, auf ihre Weise entledigen: Settembrini schießt in die Luft, Naphta tötet sich selbst. Das morbide Treiben, findet durch den »Donnerschlag« des 1. Weltkrieges ein unvermitteltes Ende. Der Roman verliert seinen Helden als anonymen Soldaten im Angriff »aus den Augen« : »Lebewohl Hans Castorp ... Deine Geschichte ist aus. Zu Ende haben wir sie erzählt; sie war weder kurzweilig noch langweilig, es war eine hermetische Geschichte. Wir haben sie erzählt um ihretwillen, nicht deinethalben, denn du warst simpel. «

FINIS OPERIS
Nachdem Hans Castops Vetter Joachim zum sterben in das Sanatorium zurückkehrte und schließlich im Kapitel „Als Soldat und brav" starb, folgt im darauf folgendem Kapitel „Strandspaziergang" eine philosophische Betrachtung über die Zeit. Hier ein Ausschnitt:
Kann man die Zeit erzählen, diese selbst, als solche, an und für sich? Wahrhaftig, nein, das wäre ein närrisches Unterfangen! Eine Erzählung, die ginge: "Die Zeit verfloß, sie verrann, es strömte die Zeit" und so immer fort, - das könnte gesunden Sinnes wohl niemand eine Erzählung nennen. Es wäre, als wollte man hirnverbrannterweise eine Stunde lang ein und denselben Ton oder Akkord aushalten und das - für Musik ausgeben. Denn die Erzählung gleicht der Musik darin, daß sie die Zeit erfüllt, sie "anständig ausfüllt", sie "einteilt" und macht, daß "etwas daran" und "etwas los damit" ist, - um mit der wehmütigen Pietät, die man Aussprüchen Verstorbener widmet, Gelegenheitsworte des seligen Joachim anzuführen: längst verklungene Worte, - wir wissen nicht, ob sich der Leser noch ganz im klaren darüber ist, wie lange verklungen. Die Zeit ist das Element der Erzählung, wie sie das Element des Lebens ist, - unlösbar damit verbunden, wie mit den Körpern im Raum. Sie ist auch das Element der Musik, als welche die Zeit mißt und gliedert, sie kurzweilig und kostbar auf einmal macht: verwandt hierin, wie gesagt, der Erzählung, die ebenfalls (und anders als das auf einmal leuchtend gegenwärtige und nur als Körper an die Zeit gebundene Werk der bildenden Kunst) nur als ein Nacheinander, nicht anders denn als ein Ablaufendes sich zu geben weiß, und selbst, wenn sie versuchen sollte, in jedem Augenblick ganz da zu sein, der Zeit zu ihrer Erscheinung bedarf.

Das liegt auf der flachen Hand. Daß aber hier ein Unterschied waltet, liegt ebenso offen. Das Zeitelement der Musik ist nur eines: ein Ausschnitt menschlicher Erdenzeit, in den sie sich ergießt, um ihn unsagbar zu adeln und zu erhöhen. Die Erzählung dagegen hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch-reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann. Ein Musikstück des Namens 'Fünf-Minuten-Walzer' dauert fünf Minuten, - hierin und in nichts anderem besteht sein Verhältnis zur Zeit. Eine Erzählung aber, deren inhaltliche Zeitspanne fünf Minuten betrüge, könnte ihrerseits, vermöge außerordentlicher Gewissenhaftigkeit in der Erfüllung dieser fünf Minuten, das Tausendfache dauern - und dabei sehr kurzweilig sein, obgleich sie im Verhältnis zu ihrer imaginären Zeit sehr langweilig wäre. Andererseits ist möglich, daß die inhaltliche Zeit der Erzählung deren eigene Dauer verkürzungsweise ins Ungemessene übersteigt, - wir sagen "verkürzungsweise", um auf ein illusionäres oder, ganz deutlich zu sprechen, ein krankhaftes Element hinzudeuten, das hier offenbar einschlägig ist: sofern nämlich dieses Falls die Erzählung sich eines hermetischen Zaubers und einer zeitlichen Überperspektive bedient, die an gewisse anormale und deutlich ins Übersinnliche weisende Fälle der wirklichen Erfahrung erinnern. Man besitzt Aufzeichnungen von Opiumrauchern, die bekunden, daß der Betäubte während der kurzen Zeit seiner Entrückung Träume durchlebte, deren zeitlicher Umfang sich auf zehn, auf dreißig und selbst auf sechzig Jahre belief oder sogar die Grenze aller menschlichen Zeiterfahrungsmöglichkeit zurückließ, - Träume also, deren imaginärer Zeitraum ihre eigene Dauer um ein Gewaltiges überstieg und in denen eine unglaubliche Verkürzung des Zeiterlebnisses herrschte, die Vorstellungen sich von solcher Geschwindigkeit drängten, als wäre, wie ein Haschischesser sich ausdrückt, aus dem Hirn des Berauschten "etwas hinweggenommen gewesen wie die Feder einer verdorbenen Uhr".

Ähnlich also wie diese Lasterträume vermag die Erzählung mit der Zeit zu Werke gehen, ähnlich vermag sie sie zu behandeln. Da sie aber "behandeln" kann, so ist klar, daß die Zeit, die das Element der Erzählung ist, auch zu ihrem Gegenstande werden kann; und wenn es zuviel gesagt wäre, man könne "die Zeit erzählen" so ist doch, von der Zeit erzählen zu wollen, offenbar kein ganz so absurdes Beginnen, wie es uns anfangs scheinen wollte, - so daß denn also dem Namen des "Zeitromans" ein eigentümlich träumerischer Doppelsinn zukommen könnte. Tatsächlich haben wir die Frage, ob man die Zeit erzählen könne, nur aufgeworfen, um zu gestehen, daß wir mit laufender Geschichte wirklich dergleichen vorhaben. Und wenn wir die weitere Frage streiften, ob die um uns Versammelten sich noch ganz im klaren darüber seien, wie lange es gegenwärtig her ist, daß der unterdessen verstorbene ehrliebende Joachim jene Bemerkung über Musik und Zeit ins Gespräch flocht (die übrigens von einer gewissen alchimistischen Steigerung seines Wesens zeugt, da solche Bemerkungen eigentlich nicht in seiner brave Natur lagen), - so wären wir wenig erzürnt gewesen, zu hören, daß man sich wirklich im Augenblick nicht mehr so recht im klaren darüber sei: wenig erzürnt, ja zufrieden aus dem einfachen Grunde, weil die allgemeine Teilnahme an dem Erleben unseres Helden natürlich in unserem Interesse liegt und weil dieser, Hans Castorp, in beregtem Punkte durchaus nicht ganz fest war, und zwar schon längst nicht mehr. Das gehört zu seinem Roman, einem Zeitroman, - so - und auch wieder so genommen.

Wie lange Joachim eigentlich hier oben mit ihm gelebt, bis zu seiner wilden Abreise oder im ganzen genommen; wann, kalendermäßig, diese erste trotzige Abreise stattgefunden, wie lange er weggewesen, wann wieder eingetroffen und wie lange Hans Castorp selber schon hier gewesen, als er wieder eingetroffen und dann aus der Zeit gegangen war; wie lange, um Joachim beiseite zu lassen, Frau Chauchat ungegenwärtig gewesen, seit wann, etwa der Jahreszahl nach, sie wieder da war (denn sie war wieder da), und wieviel Erdenzeit Hans Castorp im 'Berghof' damals verbracht gehabt hatte, als sie zurückgekehrt war: bei all diesen Fragen, gesetzt, man hätte sie ihm vorgelegt, was aber niemand tat, auch er selber nicht, denn er scheute sich wohl, sie sich vorzulegen, hätte Hans Castorp mit den Fingerspitzen an seiner Stirn getrommelt und entschieden nicht recht Bescheid gewußt, - eine Erscheinung, nicht weniger beunruhigend als jene vorübergehende Unfähigkeit, die ihn am ersten Abend seines Hierseins befallen hatte, nämlich Herrn Settembrini sein eigenes Alter anzugeben, ja, eine Verschlimmerung dieses Unvermögens, denn er wußte nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei!


Thomas Mann: Der Zauberberg, Sonderausgabe Frankfurt/M. 2003 , S. 741-744.